Theoretische Grundlagen des EMDR

EMDR - was bedeutet das?

E-M-D-R = Eye Movement Desensitization and Reprocessing
Deutsch: Desensibilisierung und Neuverarbeitung durch Augenbewegungen. - Das heißt: Durch die Links-Rechts-Bewegungen der Augen werden Ängste und Panikgefühle weniger, sie werden „desensibilisiert“. Darüber hinaus kommt es durch die abwechselne Stimulierung der beiden Gehirnhälften zu einer Verknüpfung von zuvor isoliert abgespeicherten Teilen der Erinnerung: Emotionen, Körperreaktionen und fragmentierte Sinneseindrücke formen sich wieder zu einer ganzheitlichen Erinnerung.

Hierbei verändern sich auch die damit verbundenen negativen Gedankenhin zum Positiven. Diese Neuverarbeitung (Reprocessing) bewirkt, dass das traumatische Erlebnis zwar noch existiert, in der Erinnerung aber nicht mehr ständig präsent ist, so dass viele Betroffene nach einigen EMDR-Sitzungen sagen können: „Ich weiß, es ist geschehen. Es war schlimm! Aber es ist nun vorbei.“

EMDR - wie es dazu kam

Im Jahr 1989 machte die an Krebs erkrankte Psychologin Dr. Francine Shapiro einen Spaziergang durch den Park. Obwohl die Erkrankung überwunden schien, konnte sie gedanklich nicht abschalten. Unbewußt bewegte sie während des Gehens die Augen zwischen den Bäumen hin und her und erlebte eine deutliche Entlastung von ihren Ängsten und depressiven Gedanken.

„Ich merkte schließlich, dass meine Augen immer dann, wenn mir belastende Gedanken kamen, spontan anfingen, sich diagonal hin- und her zu bewegen. Danach verschwanden die Gedanken, und wenn ich sie mir bewusst erneut vergegenwärtigte, war der mit ihnen verbundene negative Affekt stark verringert.“ (Shapiro).

Dr. Francine Shapiro machte zahlreiche Versuche mit Freunden und Bekannten und entwickelte daraus ihre EMDR-Therapie, die inzwischen weltweit Anerkennung gefunden hat und vor allem zur Behandlung von traumatischen Erlebnissen angewandt wird. Viele Erfahrungen der letzten 20 Jahre sind in das EMDR von heute eingegangen, so dass in der EMDR-Ausbildung inzwischen nicht nur Augenbewegungen eingesetzt werden, sondern z.B. auch eine Links-Rechts-Stimulierung (= tapping) der Knie oder der Hände.

Emotionales und kognitives Gehirn: Was geschieht bei einem Schock?

David Servan-Schreiber unterscheidet in seinem Buch Die Medizin der Emotionen zwischen zwei Gehirnen: dem stammesgeschichtlichen älteren Teil des Gehirns, der unsere instinktiven Reaktionen steuert und Erlebnisse als miteinander verknüpfte Sinneseindrücke speichert (Hören, Riechen, Schmecken, Körperempfindungen, Emotionen und innere Bilder). Servan-Schreiber nennt diesen Teil unseres Gehirns das „emotionale Gehirn“.

Daneben gibt es die entwicklungsgeschichtlich relativ junge Großhirnrinde (den „Neocortex“). Sie ist für unser logisches Denken, die Sprache und die Einordnung von Erlebnissen in Raum und Zeit verantwortlich. Servan-Schreiber nennt diesen Teil unseres Gehirns das „kognitive Gehirn“. Beim Abspeichern und späteren Erinnern von Erlebnissen sind normalerweise emotionales und kognitives Gehirn durch zahlreiche Nervenverbindungen miteinander vernetzt.

Bei einschneidenden, lebensbedrohlichen Ereignissen reagiert unser Organismus allerdings mit Schock. Hierbei wird das kognitive Gehirn ganz oder teilweise vom emotionalen Gehirn abgetrennt (siehe nebenstehende Grafik). Die Erklärung: im Augenblick der Gefahr ist es völlig unwichtig, eine logische Begründung für die traumatische Situation zu finden, sie zeitlich einzuordnen oder das Erlebte in Worten wiederzugeben.

Die Wirkung von EMDR

Wenn wir die Augen abwechselnd nach links und rechts bewegen und uns gleichzeitig an die traumatische Situation erinnern, werden abwechselnd Impulse an die linke und rechte Gehirnhälfte gesandt, die dazu führen, dass fragmentierte Informationssplitter sich Stück für Stück zu einer ganzheitlichen Erinnerung formen, die vom kognitiven Gehirn nun als “Vergangenheit” erkannt wird. So kommt es, dass Betroffene nach einigen EMDR-Sitzungen das Trauma nicht mehr als gegenwärtig erleben, sondern äußern: “Ja, es war schlimm, aber es ist heute vorbei.”

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in den REM-Phasen des Schlafs bei der Verarbeitung von kurz zurückliegenden Erlebnissen oder Informationen automatisch Links-Rechts-Augenbewegungen durchgeführt werden, die denen des EMDR ähneln.

Eye Movement: Links-Rechts-Augenbewegungen

Durch die Links-Rechts-Augenbewegungen werden abwechselnd die linke und die rechte Gehirnhälfte stimuliert. Darauf beruht vermutlich die Wirkungsweise von EMDR.

Tapping: Abwechselndes Klopfen auf Hände oder Knie

Heute weiß man, dass die Stimulierung der beiden Gehirnhälften nicht nur durch Augenbewegungen, sondern auch durch “tapping” bewirkt werden kann.

Normale Abspeicherung von Erlebnissen

Emotionale und kognitive Hirnareale sind durch zahlreiche Nervenverbindungen miteinander verknüpft

Fragmentierte Abspeicherung bei Schock

Die Nervenverbindungen zwischen Bereichen des kognitiven und des emotionalen Gehirns werden unterbrochen. Auch die neuronalen Verknüpfungen zwischen Hören, Sehen, Riechen, Schmecken etc. sind meist nur stückweise vorhanden.

Literatur

  • David Servan-Schreiber: Die neue Medizin der Emotionen (S.89-123). Goldmann, 2006
  • Francine Shapiro. EMDR. Grundlagen und Praxis. Junfermann, 1999+2012
  • Laurel Parnell. EMDR - Der Weg aus dem Trauma. Junfermann, 1999
  • Laurel Parnell. Attachment-Focused EMDR. Healing Relational Trauma. Norton & Company, 2013
  • Francine Shapiro. Frei werden von der Vergangenheit. Kösel, 2013
  • Bessel van der Kolk. Verkörperter Schrecken. Probst-Verlag, 2014
  • Bessel van der Kolk. Traumatic Stress. Junfermann, 2000
  • Babette Rothschild. Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. Synthesis, 2002
  • Jochen Peichl. Jedes Ich ist viele Teile. Kösel, 2010)